Zum 50 Geburtstag einer liebe Bekannten hatte ich die Idee, ihr einen Gutschein für das Aussortieren ihres Kleiderschrankes zu schenken.
Ich wusste wie voll und wie groß der Schrank war und dass sie dieses Thema schon lange angehen wollte.
Wie es so ist mit Gutscheinen, dauerte es eine geraume Zeit bis ihr Anruf kam. Und ich dachte schon, mein Geschenk wäre gänzlich unpassend gewesen.:
„ Karin., ich bin soweit ! Wann kannst du kommen? Ich habe schon mal vorsortiert, die Kleiderstapel liegen bereit - wir können loslegen!“
Und wir legten los! Mit Schwung und Elan, mit Abwägen , Anprobieren und manchen Seufzern arbeiteten wir uns durch die Kleiderberge.
Nach gut 2 Stunden war über die Hälfte aussortiert, wir beide leicht erschöpft und sehr zufrieden. Ich freute mich schon auf einen schönen Abschlusstee, da entdeckte ich in einem Fach ganz oben im Kleiderschrank einen Stapel Wollpullover, den Sie nicht herausgenommene hatte.
Du kennst das bestimmt, beim Verabschieden an der Türe im Flur, da kommen auf einmal zwischen Tür und Angel die wirklich wichtigen Themen auf.
Die Entdeckung der Wollpullover war so ein Moment.
Unter wortreichen Versicherungen, dass diese Pullover nicht aussortiert werden und ganz bestimmt bleiben, hole ich den Stapel heraus und lege ihn auf das Bett.
Am auffälligsten war ein, im aufwändigen Zopfmuster gestrickter, roter Pullover, der seit gut 30 Jahren jeden Umzug mitgemacht hatte .
Anne (Name geändert) schwärmt:
„Einer meiner Lieblingsstücke!, selbstgestrickt. Mein Gott, war ich da noch jung und wieviel Zeit ich da hatte!“
Bei „wieviel Zeit ich da hatte“ werde ich aufmerksam!
Denn, es ist schnell klar, dass sie ihn seit Jahr und Tag nicht mehr getragen hat, dass ihre Tochter ihn nicht tragen würde und ,nach dem Anziehtest,, dass sie ihn auch nicht mehr tragen wird!
Warum schleppt sie ihn dann mit und blockiert kostbare Schrankfläche?
Das Thema , das dahintersteckt ist Zeit, mit all den unterschiedliche Facetten:
Die schöne, unbeschwerte Zeit der Jugend (War die wirklich so unbeschwert?) und die eigene Angst vor der Zeit des Alters… die eigene Lebenszeit ist auf einmal mehr im letzten Drittel. Und natürlich das eigentliche Thema, Zeit haben! Zeit für aufwändige Muster stricken, Zeit für Muse, Zeit für sich.
Anne arbeitet , seit ihre 3 Kinder groß sind, Vollzeit sehr erfolgreich in einer Bank…. Sie hat das Angebot noch intensiver einzusteigen. Die Arbeit macht ihr Spaß und das würde ihrem Vater, der noch recht rüstig ist, sehr stolz machen. Welche Tochter hat das nicht gerne?
Der Preis allerdings ist hoch. Zeit für sich selbst ist dann kaum noch vorhanden.
Ihr rote Pullover erinnert sie an „Zeit für sich“ und die Frage, wer und was ist wirklich wichtig in meinem Leben? Daher musste das gute Stück bis jetzt bleiben!
Nachdem ihr Bedürfnis nach Muse für sich klar war, wusste sie , wie sie entscheiden wollte:
Bankarbeit ja und statt mehr, ein wenig mmer.
weniger, dafür Freitag nachmittag frei !
Sie drückte ihren Pulli noch einmal innig an sich, dankte innerlich und legte ihn wie selbstverständlich in den Karton für die "Weg-gebe-Kleider"….gefolgt von einem tiefen Aufatmen!
Was für ein schöner Schlusssatz für dieses Kapitel,
Doch noch sollte es nicht soweit sein, da lagen ja noch 3 weitere liebevoll, handgestrickte Pullis.
Ich war durch das intensive Gespräch wieder voller Elan und bereit dieses allerletzte noch zu Ende zu bringen .
Zum Glück hatte ich Tempotaschentücher dabei, denn nun ging es wirklich in die Tiefe
(am besten atmest du jetzt auch einmal tief durch, ha- hu) :
Kaum wendete sich Anne diesen 3 letzte Kleidungsstücken zu, hatte sie schon Tränen in den Augen.
„Meine allerbesten Freundin und ich“, unter Tränen erzählt sie: „wir haben es beide geliebt, gemeinsam zusammen zu sitzen und dabei zu stricken. Neben dem Spass an neuen Strickmustern und modischen Teilen habe wir über Gott und die Welt geredet…. über unsere Ehemänner, die Kinder und alles was sie und mich bewegte. Auch während ihrer jahrelangen Krebskrankheit - sie war so stark und tapfer- standen wir uns zur Seite. Sie fehlt mir so unglaublich!“
Jetzt brauchte ich auch ein Taschentuch und konnte sie nur noch in den Arm nehmen und weinen lassen……mitten im Schlafzimmer zwischen all den Kleidertürmen, Säcken und Kartons.
Der Schmerz über den Verlust ihrer Freundin - ihr Begräbnis war schon einige Jahre her- sass noch tief. Anne war ihr weiterhin treu und hielt sie mithilfe der selbstgestricketen Pullover in ihrer Nähe …im Schlafzimmer.
Jetzt war es an der Zeit, noch einmal durch den Schmerz zu gehen um den Verlust zu heilen.
Im inneren Dialog, zu dem ich Anne ermunterte, konnte sie ihrer Freundin „Danke für die gemeinsame Zeit“ sagen und ihr einen großen Platz in ihrem Herzen einräumen.
Jetzt wurde es leichter und wieder gab es ein Gefühl der Befreiung … wir atmeten gemeinsam auf!
Im letzten Schritt wurde der Wunsch nach einer neuen Freundschaft deutlich.
Mit den zukünftigen Mußestunden und dem freigewordenen Platz war ich mir sicher, dass dieses Geschenk schon auf sie wartet !